Eliska Bartek.                                                                                                         Literaturkritik


 Das Schwere wird leicht

Thomas Jordan

 

In ihrem autofiktionalen Roman „Und vor mir ein ganzes Leben“ erzählt die Künstlerin Eliška Bartek von der grenzüberschreitenden Suche einer jungen Frau nach dem Glück in Zeiten des Patriarchats und findet dabei zu einem ganz eigenen Sound

 

 

Wie wird man resilient? Eine wichtige Rolle dabei spielt die Fähigkeit, sich anzupassen und sich trotz „ungünstiger Lebensumstände und kritischer Lebensereignisse erfolgreich zu entwickeln.“, so steht es in einem Psychologielexikon. Resilienz, könnte man sagen, ist eine Art ‚Widerstandsfähigkeit des Ich‘, auch in den furchtbarsten Situationen. Und davon gibt es eine ganze Menge in Eliška Barteks autofiktionalem Roman Und vor mir ein ganzes Leben.

 

Eine junge Frau beschließt, zu fliehen. Aus der Tschechoslowakei, aus ihrem für sozialistische Verhältnisse ziemlich großbürgerlichen Elternhaus und aus ihrem alten Leben als Verwaltungsangestellte. Es wird nicht ihre einzige Flucht bleiben.

 

Die Biographie dieser autofiktionalen Eliška Bartek, die die im Jahr 1950 geborene Autorin Bartek im April 2024 veröffentlicht hat, ist ein atemloser, nicht selten lebensgefährlicher Tanz mit den Chancen und Abgründen des menschlichen Lebens. Und sie ist eine große Feier des widerständigen Ichs. Der Mut, die eigene Sicht auf die Welt, die eigene Vision vom Leben gegen alle Bedrohungen zu behaupten, zieht sich durch den Text und verbindet die einzelnen Episoden miteinander wie die Pinselkleckse eines abstrakten Gemäldes. Das beginnt schon beim Einmarsch der sowjetischen Armee in Prag im Jahr 1968. Als ein Soldat Eliška einen barschen Befehl erteilt, denkt sie erst einmal gar nicht daran, ihn zu befolgen. Der kaum 18 Jahre alten Protagonistin gehen in diesem Moment ganz andere Dinge durch den Kopf: Sie träumt sich im Angesicht von Soldaten und Gewehren in eine dramatische Liebesszene und fragt sich: „ob er mich erschießen würde, ob er den Mut hätte, wenn ich mich weigerte. Ob es nicht besser wäre, ihn zu küssen, (…)“. Es ist dieser „Panzer aus Gedanken“, wie es die Ich-Erzählerin selbst im Verlauf des Romans nennt, der ihr von klein auf hilft, zu überleben. Sie wird ihn noch dringend benötigen.

 

Am 1. Mai 1972 überquert die 21-jährige Eliška Bartek die Grenze der Tschechoslowakei nach Westdeutschland. Nackt bis auf Slip und BH kauert sie zwischen Rücksitz und Kofferraum eines Mercedes mit Donauwörther Kennzeichen, ihr Kopf liegt auf dem Radkasten des violetten Wagens. Sie kann sich nicht rühren, darf keinen Laut von sich geben, aus Angst davor, die Grenzer könnten sie bei der Kontrolle entdecken. „Ich muss tot sein. Und trotzdem leben, damit ich keine Geräusche von mir gebe.“ Erst sechs Stunden später hinter der Grenze auf bayerischer Seite, schraubt Rainer, der braungebrannte Mittvierziger mit den gelockten, weißen Haaren, den sie in einer Bar im böhmischen Kurort Franzensbad kennengelernt hatte, den Rücksitz seines Mercedes ab. Eliška hat es geschafft. Und bricht erst einmal zusammen. Freiheit ist für Bartek kein Ort, Freiheit ist eine Haltung, für die es sich ein Leben lang zu kämpfen lohnt.

 

 

Wenn sie am Ende ist, geht es erst richtig los

 

Leben und Tod, unbezähmbarer Wille und existenzielles Ausgeliefertsein sind bei Bartek auf das Engste miteinander verknüpft. Immer wieder sind es Situationen absoluter Hilflosigkeit aus denen sich eine neue Wendung in diesem irren, überdrehten Leben ergibt. Im Fußraum des weißen Porsche etwa, in dem ihr Schweizer Ehemann Christoph sie nach einer Abtreibung abholt. Blutend, wimmernd liegt sie da: „Wie ein Hund auf der Bodenmatte. Ich kam mir elend und verloren vor. Ich fühlte mich schuldig.“ Und doch, nur wenig später schöpft sie die Kraft, all das hinter sich zu lassen und neu zu beginnen. Oder wenn ein befreundeter Restaurator sie aus enttäuschter Liebe in einen Schrank sperrt, sich betrinkt und sie vergisst. Bei Eliška reift dort, zusammengequetscht im antiken Möbelstück, der Entschluss, selbst Künstlerin zu werden. Später wird sie in Luzern eine erfolgreiche Galerie betreiben.

 

Ja, dieser Roman ist auch ein #Metoo-Roman, mit all dem Horror, der dazugehört. An vielen Stellen ist die Gewalt der Männer gegen die weibliche Hauptfigur kaum auszuhalten. Aber man täte Eliška unrecht, sie darauf zu reduzieren. Diese Protagonistin definiert sich nicht als Opfer. Noch in der größten Verzweiflung ist sie immer auch Handelnde, bricht neu auf, träumt sich durch ihre Traumata hindurch und rettet dadurch zwar nicht ihren Körper, allem Anschein nach aber ihren Geist.

 

Bei alledem entwickelt dieses widerständige Ich eine faszinierende erzählerische Stimme. Diese Stimme ist spontan und ungeduldig – kaum eine halbe Seite nimmt sich die Erzählerin für so manche Episode – wild springt sie in der Handlung vor- und zurück und wirkt dabei wie von einer fast märchenhaften Fabulierlust getrieben. Im unglaublichen Leben der Eliška Bartek, das manchmal ein wenig an einen Schelmenroman erinnert, ist Platz für böhmische Burgromantik und bundesrepublikanische Gartenzwerge, für sonnenbebrillte montenegrinische Mafiosi und Schweizer Sanatorien.

 

Vor allem aber ist diese Stimme offenherzig bis zur Naivität und dabei doch so radikal pragmatisch, dass einem manchmal der Atem stockt. Das drückt sich auch in der schnoddrig-lapidaren Sprache der Ich-Erzählerin aus. Ihren Selbstmordversuch als Teenagerin kommentiert sie mit den Worten: „Vor allem nervten mich meine Eltern.“ Achselzuckend-kokett auch der Gestus, mit dem sie die ersten Monate im bundesrepublikanischen Bungalow von Rainer übersteht: „Ja, ich musste folgen, obwohl ich keine Befehle bekam. Meine Mutter sagte immer: ‚Wes Brot du isst, des Lied du singst.’ Aber da machte ich mir jetzt keine Gedanken. Ich aß kein Brot und sang auch nicht.“ Nach einigen Monaten besorgt sie sich eine Ausbildungsstelle zur Arzthelferin und nach knapp zwei Jahren ist sie weg von Rainer.

 

 

Diese Stimme verstört und fasziniert

 

Immer wieder überrascht diese Stimme aber auch, irritiert mit Aussagen, die quer stehen zum Erwartbaren. Als sie gerade dem Grauen hinter der Thuja-Hecke von Rainer entkommen ist, geht ihr durch den Kopf: „Jeder Mensch ein Schicksal. (…) So besonders war ich nicht auf meinem Weg.“ Ob das die ein oder andere Romanfigur, die die Begegnung mit ihr nicht überleben wird, auch so sieht, muss offenbleiben. Der Ost-West-Gegensatz schnurrt bei ihr zusammen auf unterschiedliche Arten, mit seelischen Verletzungen umzugehen:

 

 

 

Wir brauchten keine Psychotherapie, denn wir sprachen uns beim gemeinsamen Warten über unsere Probleme und unser Leben aus. Ob wir für Kleider, Schuhe, Bananen oder Fleisch anstanden, egal. Und da in den Schlangen immer ein anderer vor oder hinter dir stand, konntest du deine Probleme öfter erzählen, und mit der Wiederholung stellte man fest: Es waren gar keine.

 

 

Geradezu verstörend wird es, wenn sie ihren dritten Ehemann beschreibt: „Er war ein empathischer, lieber, sensibler Mensch. Er liebte mich und wollte mit mir eine Familie.“ Als sie am Tag vor der Hochzeit einen Rückzieher machen will, prügelt er sie grün und blau und schwört, sie umzubringen. Der Sex ist trotzdem gigantisch.

 

Es hilft, dass die Erzählerin in all ihrer Widerständigkeit ein Gespür für Situationskomik entwickelt und damit so manche groteske Szene aus den ersten Jahren in der Bundesrepublik bewältigt. Etwa als Rainer Eliška im Kaufhaus in eine violette Dirndl-Imitation mit Fake-Schnürung und einen grässlichen Dirndlpullover mit grün gesticktem Halsausschnitt stecken lässt. Sie macht daraus kurzerhand eine Modenschau und ruft dem begeisterten Kaufhaus-Publikum entgegen: „Jetzt bin ich eine Deutsche“.

 

Es gibt eine weitere Voraussetzung dafür, Resilienz zu erwerben. Auch sie steht in jedem psychologischen Lehrbuch. Um Widerstandskraft zu entwickeln, muss zunächst einmal eine traumatische Erfahrung vorliegen. Oft sind das tiefe seelische Wunden, die schon in der Kinder- oder Jugendzeit erfahren werden. Wie schwerwiegend diese Verletzungen bei der Hauptfigur von Und vor mir ein ganzes Leben sind, wird im Laufe des Romans immer deutlicher. Schon ein einziges der Erlebnisse, die dieser Roman wie Sofortbildaufnahmen in einem Diavortrag hintereinander schaltet, reicht für ein ganzes Menschenleben. Und das ist vielleicht das größte Wunder, das dieser manchmal so schelmenhafte Roman bewirkt: Die Hauptfigur überlebt nicht nur all die abgründigen Erfahrungen. Sie stürzt sich geradezu auf sie und macht sie zu ihrer zweiten Haut. Und manchmal hebt sie sich damit in die Lüfte.

 

 

 

Eliška Bartek: Und vor mir ein ganzes Leben. Roman.

Weissbooks, Berlin 2024.

240 Seiten, 24,00 EUR.

 

ISBN-13: 9783863372149mon